Montag, 18. Januar 2010

Rotkäppchen in der Servicewüste

Montagmorgen, 6.15 Uhr am Frühstückstisch. Mein Blick wanderte anfänglich wie immer routiniert auf den mobilen Abfahrtsplan der Deutschen Bahn im Smartphone, um zu sehen, ob ICE 533 pünktlich um 7.14 aus Bremen abfährt. An diesem Morgen irrte der Blick aber schnell umher, denn von ICE 533 fand sich keine Spur. Er wurde im Abfahrtsplan einfach nicht aufgeführt. Bei anderen Zügen, die kurzfristig nicht fahren können, schreibt die Bahn sonst einen euphemistischen Vermerk in seinen Abfahrtsplan, so etwas wie "Halt entfällt", doch ICE 533 hatte anscheinend aufgehört zu existieren.

Also klappte ich zwecks intensiverer Nachschau mein Notebook auf, denn die Website der Bahn ist auf dem Handy noch unleserlicher als ohnehin schon. Es gibt ja für Kenner der DB-Website diesen unüberschaubar gestalteten Bereich für kurzfristige Fahrplanänderungen, doch auch hier fand sich keine Spur vom ICE 533. Also kehrte ich zum Abfahrtsplan zurück und ging nacheinander die nächsten Tage durch, nirgends ein ICE 533 zu finden - erst wieder am 1. Februar tauchte er im Plan auf.

Da die Zeit langsam drängte, überlegte ich, den Regionalexpress nach Hannover um 7.18 Uhr zu nehmen, verwarf den Plan aber schnell, da der Bummelzug 20 Minuten länger unterwegs ist als der ICE und unzählige Male hält. An einen Schlaf, wie ihn Pendler routinemäßig für die Strecke einplanen, weil sie chronisch unterschlafen sind, wäre bei der Brems- und Anfahrruckelei nicht zu denken. Lieber kochte ich mir noch einen Kaffee und beschäftigte mich mit der Suche nach irgendeinem Hinweis auf das Schicksal von ICE 533. Natürlich war mir aus den Medien bekannt, dass die Bahn Probleme mit ihrer ICE-Flotte hat, doch sie sollte ja erst ab dem 20. Januar rundherum gewartet werden. Und heute war erst der 18. Januar.

Der neue Entschluss lautete also, den IC 2035 um 8.09 Uhr zu besteigen. Nachdem ich eine E-Mail-Anfrage an die Bahn zum ICE 533 abgeschickt hatte - wegen der kostenpflichtigen Rufnummer telefoniere ich mit der DB grundsätzlich nicht - fuhr ich mit dem Rad zum Bahnhof - das war nach dem Tauwetter der vorigen Nacht endlich wieder möglich. Einen der am Gleis herumstreifenden Bahnbediensteten mit roter Mütze fragte ich, wie es denn um ICE 533 bestellt sei. Der Mann antwortete mir frei heraus, der sei kurzfristig am Wochenende aus dem Programm genommen worden. Es sei da ein Fax gekommen, die Meldung sei aber anscheinend nicht an die Medien weitergegeben worden. Die nächsten Tage sollte der ICE aber wieder fahren, sagte der Mann. Ansonsten sollte ich ein "Rotkäppchen" fragen, sagte er weiter. "Rotkäppchen" würden Leute wie er genannt, die eine rote Mütze aufhaben, raunte er in einem versöhnlichen Ton, den ich gar nicht nötig hatte, denn selbst wenn ich wütend gewesen wäre, hätte mir die Müdigkeit keine Chance gegeben, es auch zu zeigen.

Eigentlich wollte ich den im Grunde freundlichen Bahnbediensteten fragen, wie er sich das vorstellte, also ob ich morgens um 7.00 Uhr auf Verdacht am Bahnhof aufkreuzen sollte und ein Rotkäppchen fragen, falls ich Unklarheiten hätte. Und nach der geringen Anzahl an Beweisen und dem einen, aus meiner Recherchearbeit erwachsenen Indiz hatte ich davon eine ganze Menge, die reichten noch für ein paar Morgende. Zu der Frage kam ich aber nicht mehr, zum einen, weil mir der Rotbemützte noch ausführlich erläuterte, dass alle Schnellzüge ein Problem haben, also neben dem ICE 3 und dem ICE T auch der ICE 2, der nämlich mit seiner Kupplung, weshalb er in Hannover nicht mit dem Hamburger ICE gekoppelt werden könne. Nur der Sprinter und der Dingsbums hätten keine Probleme; und übrigens könnten die D-Züge um 18 nach auch alle nicht fahren. (Insofern hatte sich meine Erwägung, den Regionalexpress zu nehmen, im Nachhinein zu recht erledigt.)

Zum anderen fuhr IC 2035 nach fünfminütiger Verspätung nun doch ein, der Bahnsteig war gerammelt voll mit Menschen, die regulär den IC nehmen wollten und mit jenen, die den ICE nicht nehmen konnten und nun eine Stunde später fahren wollten, und da hieß es eine gute Ausgangsposition einzunehmen. Mir als Pendler mit dreieinhalb Jahren Erfahrung half es, dass der Zug außerplanmäßig in umgekehrter Wagenfolge einfuhr. So hatte ich zumindest gegenüber den sporadisch Reisenden einen Einstiegsvorteil im Wettlauf um die wenigen freien Plätze, da ich ungefähr einschätzen konnte, wo der Wagen mit den Bahncomfort-Plätzen stehen bleiben sollte.

Mittlerweile macht es meiner persönlichen Integrität nichts mehr aus, ein oder zwei Einstiegswillige noch kurz vor der Treppe in den Wagen durch ein wenig Drängelei zu überholen. Das war früher einmal anders, doch mittlerweile weiß ich, dass Moral, Rücksicht und Höflichkeit morgens am Bahnsteig keinen Platz haben. Nicht wenn man sitzen will und erst recht dann nicht, wenn damit zu rechnen ist, dass der Fahrgast, der vor einem einsteigt, mit seiner Gepäckfuhrwerkerei auf meine Kosten Zeit verschludert, nur weil er eine Reservierung hat, während von der anderen Seite des Wagens die Passagiere einströmen. Ich bekam also meinen Sitzplatz und beobachtete mit einer Spur Mitleid, wie Mitreisende andere im Bahncomfort-Breich fragten, ob sie auch eine Berechtigung haben, dort zu sitzen.

Das ist das Alltagsgeschäft eines Bahnpendlers. Momentan dramatisch gesteigert durch die Probleme der Bahn, mit ihrer ICE-Flotte zurechtzukommen. Was sich in Berlin mit der S-Bahn im Kleinen andeutete, wächst sich nun zu einem Problem für die Fernreisenden und -pendelnden im gesamten Bundesgebiet aus. Wie hieß es früher im Werbespot aus dem Munde des Zahnarztes, begleitet von schauerlichen Bilder schrumpfenden Zahnfleisches und faulender Zähne: "Mangelnde Pflege."

Die mutmaßliche Schluderei der Bahn ist in diesen Tagen allerorten rund um die Bahnhöfe Dauergesprächsthema und natürlich auch an den "Servicepoints" der Bahn. In Hannover angekommen wollte ich eine dieser Dienstleistungsinseln aufsuchen und eine zweite Meinung zum ICE 533 einholen, doch das war angesichts der langen Schlange unwilliger Wartender nicht zeitlich zu bewältigen. Schließlich musste ich ja noch zum Arbeitsplatz.

Also ging ich in die Schalterhalle und fand dort tatsächliche eine Bedienstete, die gerade nicht von Kunden belagert wurde. Sie sagte mir frei heraus, dass der ICE 533 bis Ende Januar nicht mehr fahren würde. Mehr könne sie nicht sagen, sie verkaufe ja nur Fahrkarten. Im Gegensatz zum Bremer Rotkäppchen hatte sie schon nach den ersten Wörtern meiner Frage die Schultern hochgezogen und eine Abwehrhaltung eingenommen. Vermutlich wäre ich nicht der erste gewesen, der seinen Brass bei ihr abladen würde. Der ICE 533 sei schon eine ganze Zeit, zumindest die ganze Woche nicht mehr im Verkehr gewesen, sagte sie außerdem. Für diese These hätte ich zwar ausreichend Gegenbeweise parat gehabt, doch die habe ich mir und ihr geschenkt - ich wollte ja zur Arbeit.

Weitere Recherche verstundete ich auf den Feierabend zur Rückkehr in Bremen. Noch die Wörter eines Mit-Aussteigenden im Ohr, der in acht Jahren Pendelei solch einen Skandal noch nicht erlebt habe, unternahm ich in Bremen einen weiteren Versuch, einen Bahn-Bediensteten am Servicepoint auf die Zukunft des ICE 533 anzusprechen - eine dritte Meinung kann ja nicht schaden, dachte ich mir.

Am Tresen dieser Dienstleistungsinsel stehend befasste sich gerade ein Mann mit einem Fahrgastrechteformular, also einem ca. einen Meter langen Papier, das auszufüllen hat, wer seinen kargen Anspruch auf Fahrkartenrückerstattung wahrnehmen will. Neben ihm schilderte eine sehr aufgebrachte Frau leider für mich nicht verständlich ihr Fortbewegungsproblem. Nur den Schluss des Disputs bekam ich mit, als nämlich der Bahnbedienstete die Hände hob wie der Priester zur Schlusssegnung in der Messe und sagte: "Sie müssen ja nicht mit uns fahren." Woraufhin die Frau kopfschüttelnd und noch einen bösen Blick hinter sich werfend fort schritt und der Mann mit dem Formular kurz aufblickte und schimpfte: "Unverschämt."

Nun wäre ich an der Reihe gewesen, meine Frage zum ICE 533 zu stellen, doch war ich in dem Moment zu perplex. Kann sich Fassungslosigkeit in vollkommener innerer Leere ausdrücken? Falls ja, war es in dem Moment bei mir so. Alle Fragen dieser Welt waren wie weggewischt in dem Moment, in dem ich sie dem Kollegen des Rotkäppchens hätte stellen können. Schweigend und für einen kurzen Moment wunschlos ging ich von dannen - leider nicht glücklich.

2 Kommentare:

  1. Der Link, der dir zum Pendeln noch fehlt, ist dieser hier:
    http://reiseauskunft.bahn.de/bin/trainsearch.exe/dn ;-)

    Die Suche nach "ice 533" liefert die Auskunft, dass er im Februar wieder fährt, allerdings über den Monatswechsel Februar/März nochmal zwei Wochen nicht fährt sowie von Mai bis August nur Mo-Fr. Die Gründe dafür wirst du von der Bahn nicht erfahren, zumindest nicht von den Mitarbeitern an den Bahnhöfen - die werden nämlich was solche Dinge angeht ebenfalls nur unzureichend informiert. Da müsste man ein paar Etagen höher nachfragen...

    Mitfühlende Grüße von einem Pendler Mannheim-Stuttgart, dessen Standard-Züge (ICE3) derzeit nur in Einfachtraktion verkehren... Morgens UND nachmittags...

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  2. Ah, vielen Dank für den Link. Nach so etwas hatte ich gesucht, aber die Gestaltung der DB-Website hatte mich wohl nicht ausreichend Hoffnung und Geduld schöpfen lassen, jemals dorthin zu gelangen.

    Mitfühlende Grüße zurück,
    Andreas

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